Das dreiteilige Projekt „*Topie – Space is the Case“ – Publikation – Performance – Ausstellung

folgt einem interdisziplinären Ansatz und verflicht verschiedene künstlerische Genres –Literatur, Performance, Bildende Kunst und Musik – zu einem Gesamterlebnis, einer Gesamterfahrung. 

*Topie ist Titel und Anlass des ersten Projektteils, der Publikation, eine Anthologie im GEH8 Verlag.

Vierzehn Autor/-innen aus ganz Deutschland und aus dem Iran verfassten Texte in Form von Kurzgeschichten, Gedichten, Traktaten und Auszügen aus Romanen, die für die Anthologie bearbeitet und erweitert wurden. Den Texten wurden Zeichnungen des Künstlers André Tempel zugeordnet, meist durch die Autor*innen selbst. Als Impulse für die Autor/-innen dienten nur der Arbeitstitel *topie und das Jahresthema der GEH8 Space is the case.

Das aus dem Griechischen entlehnte „topie“ bezeichnet in seiner ursprünglichen Bedeutung Begriffe wie Ort, Stelle oder Raum. Es meint jedoch nicht nur einen physischen, sondern vor allem einen imaginären Raum, wie in Dystopie oder Utopie. Die Entwicklung solcher Denkräume ist Ergebnis einer kreativen Schöpfung, egal ob sie sich als Klangraum, Bildraum oder Erzählraum manifestiert. Sie sind Spielwiesen des Möglichen, Projektionsflächen für Visionäre. Aber auch abseits dieser Gedankengänge spielt die Frage nach dem Raum eine wichtige Rolle in aktuellen gesellschaftlichen Debatten: etwa bei der Auseinandersetzung um bezahlbaren Wohnraum, der Beschäftigung mit der Erde als Lebensraum oder in territorialen Konflikten wie dem Krieg in der Ukraine.

Das Motto Space is the Case ist eine Abwandlung des Slogans Space is the Place; Titel eines afrofuturistischen Films aus den frühen 70er-Jahren. Der Film mit dem Jazzmusiker Sun Ra in der Titelrolle wurde von Kritikern „als künstlerische Auseinandersetzung mit der Lebensrealität farbiger Menschen interpretiert, in deren Kontext Themen wie Entfremdung, die Erfahrung von ‚Andersartigkeit‘ und ‚Fremdsein‘ sowie die Erwartungen an eine mögliche utopische Zukunft behandelt werden.“ (Alondra Nelson)

Als Kunst- und Kulturzentrum vertrauen wir in unserer Arbeit auf das Vermögen der Kunst, Räume zu schaffen für Begegnung, Austausch und Bewusstseinsbildung. Das Projekt *topie – Space is the Case ist ein experimentelles Format zur Raumerzeugung im weiteren Sinne. Es öffnet und zeigt Räume für eine vielfältige Gesellschaft, in denen gesellschaftliche Pluralität als Norm und nicht als Ausnahme gedacht wird.
Gleichzeitig regen wir so die Reflexion über Räume an, die Pluralität verhindern, die ausgrenzen, marginalisieren, die Freiheit der Individuen in einem der demokratischen Gesellschaft abträglichen Maß beschneiden. Dabei lenken wir den Blick auf prekäre Raumrealitäten und marginalisierte Gruppen.

„Für die Performance, die performative Anthologie-Lesung in der Halle der GEH8, habe ich ein Libretto sowie einen Sprech- und Singtext für die Solist/-innen des Ensembles AuditivVokal Dresden geschrieben – ein Extrakt aller Texte, der die heterogenen Inhalte verbindet und resoniert. Der erste Entwurf des Librettos, einschließlich des raum-zeitlichen Strukturentwurfs von Friedrich Hausen, ist im Buch dokumentiert und diente als Ausgangspunkt für die Kompositionen von Alberto Arroyo und Samir TimajChi. Dirigiert und einstudiert von Olaf Katzer, werden Passagen des Librettos überlagernd gesungen und gesprochen. So wachsen die Texte ineinander und werden eins, unterbrochen durch die kurzen „konventionellen Lesungen“ der einzelnen Autor/-innen. Die narrativen Strukturen der Texte lösen sich auf und werden durch räumliche Ordnungen ersetzt: im Textraum in dieser Publikation, auf dem Papier als Schriftbild, in der bildnerischen Übersetzung der Zeichnungen, auf der phonetischen Ebene der Texte als Klangraum, der Positionierung der Lesenden und der Sänger*innen und schließlich innerhalb der von den Texten erzeugten Assoziationsräume und -netze. Strategien des Fragmentierens und Collagierens wie auch die Körperlichkeit der Ereignisse in der Live-Performance stellen eingeübte Hör- und Sehgewohnheiten infrage – und öffnen der Wahrnehmung neue Türen.

Es ist für uns alle ein spannendes Experiment, eine Einladung, ein Angebot, das ganz bewusst, auf die Steuerung der Rezeption verzichtet.

Wie wird das babylonische Stimmgewirr klingen? Wie erleben die Lesenden ihren fragmentierten, collagierten und interpretierten Text im Umfeld der vielen Stimmen? Lassen das vermeintliche Chaos, das Fremde und Unerwartete im eigenen Text neue Wahrheitsbereiche und Wirklichkeitszonen zu? Möglicherweise treten „anstrengende Wahrheiten“ nach F. Mayröcker zutage, für Autor/-innen, Lesende und Rezipient/-innen. Können die Zuhörer/-innen bei diesem Durcheinanderjagen der Texte, der Wort-, Geräusch- und Lautfolgen die gefühlte Fremdheit, das Einordnen-Wollen in bekannte Nacheinanderlichkeiten überwinden? Fassen sie es als Provokation auf, die Abwehr erzeugt? Oder gelingt es, Fantasie zu evozieren, eine Neugier zu entwickeln, wie der Körper mit neuen Erfahrungen umgeht? Wie wird die reale akustische Gleichzeitigkeit erfasst? Entsteht nur Überforderung und Abwehr oder trauen die Zuhörer*innen dem individuellen Erleben und können es als Erweiterung des eigenen Horizontes erfahren?

Es gilt, dem * (Sternchen), jedermanns Sternchen, Raum zu geben, eine *topie zu entwickeln, die nicht nur in Worte gefasst und hör- beziehungsweise lesbar ist, sondern sicht- und fühlbar, erfahrbar wird.

Das Bühnenbild für die Performance erarbeitet André Tempel, zwei Installationen in der Halle der GEH8, aufbauend auf den Texten und seinen Zeichnungen, der Versuch, die Formsprache in die Dreidimensionalität zu übersetzen. Ein großer Turm, ein Turm aus Bällen. Die schwarzen und roten Linien aus den Zeichnungen gehen in den Raum, rote Monde, Mondfinsternis. Gurte und Karabiner erzeugen ein Netz, das die kleinen, glatten und runden Berührungspunkte – noch keine Schnittpunkte oder -mengen – der großen Medizinbälle in Balance hält, vertikal wie auch horizontal. Der Innenraum des Ballturmes ist begehbar. Wie wird er die Hörbarkeit der sprechenden Personen ändern, grenzt er klanglich aus oder bezieht er ein? Wird die Präsenz der Personen im Turm erhöht? Wie trennt oder lockt die durchbrochene Folienwand von André Tempel in der Stahlkonstruktion des ehemaligen Arbeitsstands zur Ausbesserung von Bahngüterwagen? Versteckt oder verstärkt sie die Wirkung des Gegenübers auf der anderen Seite? Der ehemalige Arbeitsstand wird als Dirigentenstand genutzt. Kann Olaf Katzer aus der Höhe Sichtkontakt mit allen Beteiligten aufnehmen? Wie erlebt er die Schnittmengen und Schnittpunkte der Stimmen? Welches Klangbild interpretiert er aus den Kompositionen?

Flankierend zum Buch und zur Performance werden sich im Werkraum der GEH8 vier unterschiedliche Interpretationen des Titels *topie gegenüberstehen. An der einen Wand zeigt André Tempel in kleinformatigen Zeichnungen weibliche und männliche Gestalten in ihrer Begrenzung und im Ausbruch aus ihren Körpern/Räumen auf. Weit gereist, aus einem ehemaligen Teil Europas, ist das handgestickte Werk „Brexit Tapestry“ der Künstlerin Brigitte Mierau, das auf der gegenüberliegenden Wand den Raum einnimmt. Auf 22 Stoff-Seiten beschreibt die Künstlerin, wie Großbritannien sich innerhalb von fünfzig Jahren dem europäischen Raum verschloss und zu einer vereinzelten Insel wurde. Den Raum an Decke und Boden bespielen die iranische Filmemacherin Mahsa Foroughi und die Grafikerin Mahsa Momayezi. Mahsa Foroughi ist eine iranische (australische) Dichterin, Filmemacherin, Kritikerin und Architektin und erhielt ihren Doktortitel für ihre interdisziplinäre Forschung über Architektur, Film und Philosophie, die den Status quo der menschlichen Wahrnehmung in Frage stellt. Mahsa Momayezi wird zum Jahrestag der Ermordung von Mahsa Amini und in Resonanz mit der Kurzgeschichte der Iranerin Pajand Soleymani in diesem Buch eine neue Arbeit vor Ort schaffen. Von Mahsa Foroughi werden wir einen Film in den Raum projizieren.

Dieses dreiteilige Format, insbesondere die performative Lesung, soll als Format etabliert und weitergeführt werden.

Ich danke allen namentlich und nicht namentlich Genannten, die an diesem Möglichkeitsraum mitgebaut haben und ihn bewohnen.”

– Kathrin Assauer (Idee, Konzept, Leitung) –

 

MITWIRKENDE

AuditivVokal Dresden:
Sopran: Anne Stadler, Coco Lau, Katharina Salden, Lidia Luciano
Alt: Julia Böhme, Constanza Filler
Bass: Benjamin Mahns-Mardy , Mykola Piddubnyk, Cornelius Uhle
Tenor: Oliver Chubb

Dirigent und musikalische Leitung: Olaf Katzer

Komponisten: Alberto Arroyo, Samir TimajChi

Autor/-innen: Arash Alborz, Kathrin Assauer, Marcel Beyer, Michael Duszat, Ruth. G. Gross, Grisella Kreiterling, Martina Lenz, Marc Matthies, Masoud Riahi, Dorothee Schröder, Anja Schwennsen, Pajand Soleymani, Astrid Stähler, Silke Tobeler, Ferdinand Vicončaij

 

VERANSTALTUNGEN

*TOPIE – SPACE IS THE CASE: Eine performative Lesung

Wann: Freitag, 22. September 2023
Einlass: 18.30 Uhr
Beginn: 19 Uhr
Wo: GEH8

 

WERKRaum Ausstellung „*TOPIE“ mit Pop-up-Lesungen im Rahmen des DCA-OPEN-Galerierundgangs

Vernissage: Freitag, 22. September 2023, 19-22 Uhr
Pop-up-Lesungen im Rahmen des DCA-OPEN-Galerierundgangs: Samstag, 23. September, 13-16 Uhr
Dauer: 22. September – 8. Oktober 2023
Öffnungszeiten: Besichtigung des Werkraums nach Vereinbarung oder durch das Fenster an der Gehestraße jederzeit einsehbar

Mehr Infos zu beiden Veranstaltungen gibt es hier!

Die Publikation gibt es hier zu kaufen!

 

 

Das Projekt wird gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Vielen Dank.

Skizze/Foto: Alberto Arroyo